von ABCD » Do 27.10.2016, 09:18
Hallo,
Ich bin Arzthelferin in einer wunderbaren Praxis, mit netten Kollegen, Chefs und Patienten, die man i .d. R. auch über einen langen Zeitraum kennt, und damit eine wunderbare Bindung aufbauen kann.
Ich habe ein angenehmes Arbeitsumfeld, mein Arbeitsweg beträgt 10 Min. zu Fuß, und meine Chefs, Kollegen und Patienten schätzen meine Arbeit wert, meine Arbeitszeit ist klar geregelt, es werden kaum Überstunden toleriert, das Gehalt ist zwar wenig (10 €/ Std) brutto, aber es wird, wie üblich, ein 13tes Monatsgehalt gezahlt.
Wir planen unseren Urlaub im voraus für das kommende Jahr, ist mal jmd (oder das Kind) krank, können die anderen Kolleginnen das gut abfedern, keiner brauch sich deshalb schlecht zu fühlen.
Im regulären Alltag sind immer genug Phasen wo weniger Patienten kommen, i.d. man sehr gut durchatmen kann.
Ich weiss ich habe großes Glück mit meinem Arbeitsplatz und schaue immer häufiger mit Mitleid auf die gesamte Pflegebranche, die soweit ich es bisher mitbekam, meine Schwester begann grad ihre Ausbildung zur Gesundheits-, und Krankenpflegerin i.d. hiesigen Uni-Klinik, furchtbar ausgenutzt und regelrecht verbraucht wird. In allen Bereichen. Und dann ausgespuckt und als Häufchen Elend liegen gelassen. Die körperliche Anstrengung ist für mich kaum vorstellbar, ich könnte, rein physisch, obwohl ich tägl. 1 Stunde ins Fitnessstudio gehe und Krafttraining mache, kaum einen Patienten von 140 Kg ständig umlagern, geschweige denn, fachgerecht säubern oder durch die ganze Wohnung hieven.
Und das alles mit menschenunwürdigen Arbeitszeiten, Belastungen, Ausstattungen, abgeschnitten vom eigenen sozialem Umfeld, mit dem schlechten Gefühl die eigenen Kinder nicht so betreuen zu könne wie man es sich wünscht, ohne zeitliche und physisch/psychische Kapazitäten für die eigenen Bedürfnisse.
Was ich sagen möchte ist: Es geht vlt. auch anders, ich möchte jeden, der in irgendeiner Art und Weise unter seinen Arbeitsbedingungen leidet, ermuntern, sich Hilfe zu suchen, viele Ärzte, insbesondere Psychotherapeuten, sind gewillt ihren Patienten auf diesem Weg zu unterstützen, traut euch auch mal Krankengeld in Anspruch zu nehmen, evtl. eine stat. Kur zu machen, und euch neu aufzustellen, das Leben ist zu kurz als das man sich verbrauchen lassen darf.
Es ist euer Leben, und das ist das Wertvollste was ihr habt. Wenn gar nichts mehr geht, geht zum Arzt und lasst euch krankschreiben, und dann guckt, ob es noch eine Perspektive im Unternehmen gibt, und sonst lasst euch kündigen (nicht selber kündigen, das gibt 3 Monate Sperre beim Jobcenter), und lasst euch helfen, und stellt euch irgendwann ganz langsam wieder auf. Ich habe das selber durch, hatte n Albtraum-Arbeitsplatz, bin dann mit Depressionen in stat. Kur gegangen, und war 1,5 Jahre in stat. Therapie. Und hatte zu Hause alles verloren. Aber mir ging es besser denn je, ich baute mich langsam wieder auf, das Jobcenter hat mich nie bedrängt o.ä, wurde dann sogar noch (ungeplant) schwanger, betreute mein Kind aus Überzeugung, 3,5 Jahre zu Hause, und war so 6 Jahre aus dem Beruf raus.
Und dennoch bin ich da wo ich heute bin. Glücklich, gesund und zufrieden. Genauso wie mein Mann und meine Tochter.
Der berufliche Wiedereinstieg war, natürlich kein Zuckerschlecken, aber mit Ausdauer und ohne Not, in der Lage, das beste Angebot für mich, abwarten zu können, ist es mir gelungen. Und führt jetzt dazu, dass ich eine gute Perspektive habe gesund und glücklich durch mein Arbeitsleben zu kommen. Rente wird es eh nicht geben, da bin ich realistisch. Was dann ist weiss ich nicht. Aber die Krise hat mich gestärkt, und dazu geführt, das ich jetzt und perspektivisch der Gesellschaft nicht mehr zur Last falle, sondern mich tatkräftig für diese einsetzen kann, und min. ein Kind auf den Weg gebracht habe, dies ebenso zu tun.
Liebe Grüße
J.