Die letzte Nacht
Die letzte Nacht verbrachte er im Sitzen. Er war nicht müde. Doch selbst wenn er müde gewesen wäre - nichts hätte ihn dazu bewegen können, diese Nacht ins Bett zu gehen. Nicht diese Nacht. So sass er auf dem Stuhl, die Arme auf den Tisch gelegt, die Hände gefaltet. Und während die letzte Frist verrann, Minute um Minute, Stunde um Stunde, fixierte er die Zeiger seines alten Weckers, als könne er die Zeit dazu bringen, langsamer zu vergehen. Doch es gab keinen Aufschub mehr. All die Tricks der vergangenen Jahre waren aufgebraucht. Sein Taktieren durch die Instanzen - mal versöhnlich und voller List, mal voller Wut und ungerechtem Hass - hatte nicht verhindern können, was letztendlich immer unausweichlicher wurde. Gegen Sieben würden sie ihn holen. Mit dem Morgengrauen, als könne man das, was man mit ihm vorhatte, nur im Morgengrauen erledigen. Es war ein Verwaltungsakt, mehr nicht, und doch das Ende eines Lebens, das reicher nicht hätte sein können. Trotz aller Fehler, die wiedergutzumachen ihm ein Königreich wert gewesen wären. Seine Seele hätte er verkauft, könnte er noch einmal zurück auf Anfang.
Als die Sonne zaghaft ihre ersten Strahlen über den Horizont schickte, schloss Kurt die Augen und ließ sein Leben einmal mehr Revue passieren. Sah sich als Bub in den zerbombten Straßen der Stadt. Spielend zwischen Ruinen, als hätte der Krieg nicht Elend und Not hinterlassen, sondern Abenteuerspielplätze in Hülle und Fülle. Sah sich als Grundschüler in dem alten Schulgebäude aus roten Backsteinen, dessen mächtige Türen ihm anfangs Respekt einflößten, bis sie, mit jedem Jahrgang kleiner werdend, alles Bedrohliche verloren. Die Zeiten änderten sich, die Zeiten änderten ihn. Nicht nur äußerlich. Aus dem kleinen frechen Jungen mit den blonden Haaren und den blauen Augen, wurde ein strebsamer Jüngling mit Scheitel und Brille. Einer, der einen Beruf ergriff wie es sich gehört. Der ein Mädel kennenlernte und mit ihr zusammenzog. Pläne schmiedend für eine gemeinsame Zukunft, die trotz aller Bedrohungen der Nachkriegszeit, in der sie das Säbelrasseln der Großmächte zuweilen unheilvoll in der Ferne zu hören glaubten, voller Zuversicht war. Nicht zu werden wie die Eltern trieb sie an. Ihr Schärflein beizutragen für Frieden und Freiheit in der Welt, galt ihnen als unausgesprochene Verpflichtung. Dem Guten zu dienen, für Unterdrückte und Bedrohte zu kämpfen, gegen Gier und Korruption - und gegen die Eier aus Hühnerfabriken; all das war ihr Anspruch, wie es auch ihr Anspruch war, gemeinsam zu lachen, zu lieben, zu streiten. Nicht nur im Hier und Jetzt, sondern für immer und ewig. Und selbst in den größten Fährnissen des Lebens. Gemeinsam mit den Weggefährten, die ihnen ein Nest der Kameradschaft und Geborgenheit gaben und die ihr reiches Leben noch ein wenig reicher machten. Ein Leben, in dem sie älter und reifer wurden, gewachsen an sich und einer Liebe, die ihnen zuweilen wie ein Juwel unter Steinen erschien. Oder wie ein Schiff, dem selbst die tosende See nichts anzuhaben vermochte. Niemals hätte er gedacht, dass es so endet.
Sie sind pünktlich. Auf die Minute pünktlich. Zwei Männer, groß und schweigsam und uniformiert. Als sie kommen, schaut er nicht zurück. Erhebt sich stumm und folgt ihnen. Aufrecht und die Unterstützung abwehrend, mit der sie ihn in das Auto helfen wollen. Für eine Strecke, die lächerlich kurz ist und auf der er sich dennoch anschnallen muss. Der Vorschrift wegen. Als spiele das jetzt noch eine Rolle.
Als die Fahrt beginnt, geht sein Blick regungslos ins Leere. Er sieht nicht nach draußen, sieht nicht das Gebäude, vor dem sie schließlich halten, nicht die fremden Gesichter all jener, die seinen letzten Gang säumen. Aufrecht steigt er die drei Stufen des Eingangs empor, aufrecht betritt er den Vorraum. Ein Mann kommt ihm entgegen. Mit ausgestreckter Hand und einem Lächeln im Gesicht. »Guten Tag, Herr Neumann«, grüßt er ihn, »ich bin Pfleger Klaus. Herzlich Willkommen bei uns im Sonnenhof. Wir haben Sie im Zimmer 25 untergebracht. Ihr Zimmernachbar, der Herr Heinze, wartet schon auf Sie. Ich denke, Sie beide werden sich gut vertragen.«
Und dann gehen sie los. Vorbei an der Bücherwand für alle, der Kaninchenecke, dem Getränkestand. Die Gänge entlang zum Zimmer 25, während draußen die Sonne mit aller Kraft gegen die Scheiben schlägt und sein Leben, das reicher nicht hätte sein können, allmählich endet.
Mit besten Grüßen
Stephan Sarek
www.sarek.de